Gewaltfreiheit und gesellschaftliches Empowerment

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Julia Kraft und Andreas Speck

Die War Resisters' International führt derzeit ein Projekt
zu Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowerment durch. Paradoxerweise
entstand die Idee zu diesem Projekt aus einer Anfrage zu Gesprächen
mit bewaffneten Bewegungen, die auf der Dreijahreskonferenz 1994
in São Leopoldo in Brasilien diskutiert wurde (WRI 1995:
13). In der Entwicklung des Projektes wurde deutlich, dass es
wenig Sinn macht, die Frage der Waffen zum zentralen Ausgangspunkt
zu nehmen, da sich zum einen Gewalt nicht auf Waffen beschränken
lässt (man denke nur an strukturelle Gewalt), zum anderen
die Ziele des (bewaffneten) Kampfes somit aussen vor bleiben würden.
Fragen der sozialen Mobilisierung und der Ziele gesellschaftlicher
Veränderung rückten mehr in den Vordergrund (WRI 1995a).
Auf dem WRI-Ratstreffen in Liège 1996 wurde den veränderten
inhaltlichen Schwerpunktsetzungen mit dem Namen »Gewaltfreiheit
und gesellschaftliches Empowerment« Rechnung getragen; 'Empowerment'
wurde zum Schlüsselwort, sowohl grundlegend für die
gewaltfreie Philosophie der WRI, als auch als Schlüsselthema,
dem sich jede grössere gewaltfreie Bewegung stellen muss
(WRI 1996: 14).

Das Projekt basiert auf dem Verständnis, dass:

  • gesellschaftliches Empowerment ein Schlüsselelement sein
    sollte, wenn es um die Betrachtung des Einflusses sozialer Bewegungen
    geht;
  • der Ansatz des gesellschaftlichen Empowerments eine Rahmenperspektive
    gibt, um ansonsten miteinander in Konflikt geratende Herangehensweisen
    - Gewaltfreiheit und effektive Organisierung z.B. - miteinander
    zu verbinden;
  • Strategien des Empowerment wesentlich sind für die Effektivität
    gewaltfreier Bewegungen;
  • die Methodologie der Gewaltfreiheit für gesellschaftliches
    Empowerment besondere Einsichten anzubieten hat. (WRI 1999)

In diesem Beitrag wollen wir versuchen, Verbindungen zwischen
Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowerment herzustellen,
aber auch Widersprüche zwischen beiden Ansätzen aufzuzeigen.

Gewaltfreiheit

Gewaltfreiheit bietet eine besondere Herangehensweise an Empowerment.
Die WRI-Prinzipienerklärung bezeichnet Gewaltfreiheit als
eine Herangehensweise, die »aktiven Widerstand, einschliesslich
Zivilen Ungehorsams, mit Dialog verbinden (kann); sie kann Nicht-Zusammenarbeit
- den Entzug der Unterstützung eines unterdrückerischen
Systems - mit der konstruktiven Arbeit des Aufbaus von Alternativen
verbinden. Als eine Art sich in einem Konflikt zu engagieren stellt
Gewaltfreiheit manchmal den Versuch dar, auch Versöhnung
zu bringen: Stärkung der sozialen Strukturen, Stärkung
derjenigen am Boden der Gesellschaft, und Einbeziehung von Menschen
verschiedener Seiten in die Suche nach einer Lösung. Selbst
wenn diese Ziele nicht unmittelbar erreicht werden können,
so bleibt Gewaltfreiheit die feste Grundlage unserer Entschlossenheit,
andere Menschen nicht zu vernichten.« (WRI 1997: 9)

Die westliche Forschung zur gewaltfreien Aktion konzentrierte
sich im wesentlichen auf die Wirkung gewaltfreier Aktion auf die
GegnerInnen (Sharp 1973, 1980; Ebert 1981), wobei die Notwendigkeit
des Empowerment und die Dezentralisierung von Macht anerkannt
werden. Auch wenn Sharp (1980: 309-378) ein ganzes Kapitel dem
'popular empowerment' widmet, so geht er doch wenig tiefer als
Partizipation, Dezentralisierung von Macht und Gewaltfreiheit
als Voraussetzungen für Empowerment zu betonen. Letztlich
wird von gewaltfreien TheoretikerInnen wenig über das wie
des Empowerment reflektiert. Gleiches gilt in der Regel für
Fallstudien zu einzelnen gewaltfreien Kampagnen oder Bewegungen,
die mehr an der Wirksamkeit und Effektivität der gewaltfreien
Methoden in Bezug auf die GegnerInnen interessiert sind, als an
der Wirkung auf die, die diese Methoden praktizieren.

Empowerment

Der Begriff Empowerment wurde in den USA geprägt. Nach Barbara
Levy Simon beginnt die Geschichte des Empowerments in den USA
bereits ab 1890, auch wenn der Begriff erst 1976 von Barbara Solomon
mit ihrem Buch "Black Empowerment" geprägt wurde
(vgl. Levy Simon 1994: XIV/XV). Nach Levy Simon hat sich Empowerment
aus den verschiedensten politischen Ansätzen entwickelt.
Darunter sind: Die Schwarzenbewegung, die Frauenbewegung, Paulo
Freires Alphabetisierungskampagnen, der Anarchismus sowie Marxismus,
die Jeffersonsche Demokratie und viele mehr.

Der Begriff Empowerment kann nicht adäquat ins Deutsche übersetzt
werden. Englisch "Power" bedeutet zum einen "Macht",
"Gewalt", aber auch "Stärke", "Kraft",
"Kompetenz", "Alltagsvermögen" und "Energie".
Empowerment kann sich darauf beziehen, die eigene Kraft wiederzugewinnen,
oder jemand anderem Macht zu geben.

Bei gewaltfreiem gesellschaftlichem Empowerment geht es darum,
daß sich Menschen wieder die eigene Macht aneignen, ihre
Lebenssituation zu beeinflussen, und kreativ zu gestalten - gegen
Unterdrückung und Ausschließung, für demokratische
Partizipation, Frieden und Menschenrechte. »Gewaltfreie Macht
ist nicht Dominanz, es ist die Macht zu sein und die Macht zu
handeln. Sie verbindet ein persönliches Verständnis
von Macht - innere Macht - mit einem Willen zur kollektiven
Aktion - Macht zusammen mit - und einem Begehren, bestimmte
Ziele zu erreichen - Macht in Beziehung zu.« (Clark
1998: 14). Wichtig ist hierbei, die eigenen Fähigkeiten,
Möglichkeiten und Ressourcen zu entdecken, zu erweitern,
an andere weiterzugeben und zum Erreichen der eigenen Ziele einzusetzen.

Innere Macht entsteht auf der individuellen Ebene und bedeutet
zum einen die eigene Situation von Anpassung, Abhängigkeit
oder Unterdrückung zu durchschauen und sich daraus lösen
zu wollen und zum anderen die Erkenntnis, daß jede Person
selbst die Möglichkeit hat, auf ihre Lebenssituation Einfluß
zu nehmen und diese zu verändern. Für Starhawk bezieht
sich innere Macht auf die Mysterien, die unsere innersten
Fähigkeiten und Kräfte wecken, sie begründet sich
auf unseren Willen zu handeln und stammt aus einer Bewußtheit,
die mit dem inneren Wert aller Dinge in Berührung steht.
(vgl. Starhawk in Burrowers 1996: 84) Als eine innere Kraft zu
handeln kann auch die Überzeugung von Menschen zur Gewaltfreiheit
gesehen werden.

Es folgt der Schritt, sich mit anderen zusammenzutun, die Macht
zusammen mit.
Hier ensteht das Bewußtsein, nicht alleine
von einer Situation betroffen zu sein, sondern, daß auch
andere die gleiche Erfahrung machen. Daraus kann sich die Erkenntnis
ergeben, dass eineR nicht persönlich Schuld an ihrem/seinem
Schicksal trägt, sondern dass sich oftmals ein strukturelles
oder politisches Muster auswirkt. Diese Erkenntnis und die Zusammenarbeit
in der Gruppe kann das Selbstwertgefühl erheblich stärken.
So muß nicht jedeR einzelne Wege für sich finden, die
Situation zu meistern, sondern es kann gemeinsam für Veränderungen
gekämpft werden. Die Gruppe bietet die Möglichkeit,
Fähigkeiten und Kenntnisse zu bündeln und sich gegenseitig
zu unterstützen. Kampagnen und Bewegungen können weitergetragen
werden, auch wenn einzelne sich daraus lösen, weil andere
Dinge für sie in den Vordergrund rücken. Macht zusammen
mit
beinhaltet darüber hinaus ein Bewußtsein, das
die Welt als ein Muster aus zu formenden Beziehungen und Zusammenhängen
versteht, sie ist die Fähigkeit, als ein Kanal zu handeln,
der den Willen der Gruppe bündelt (Starhawk in Burrowers
1996: 84). Menschen, die aktiven Einfluß auf ihre Lebenssituation
nehmen wollen, sind oft der Macht der Herrschenden ausgesetzt,
der sie als Gruppe viel mehr entgegensetzen können. Bewegungen
sind stark, wenn sie von möglichst vielen Menschen getragen
werden. Bei Macht zusammen mit geht es auch darum, Netzwerke
zwischen verschiedenen Gruppen zu schaffen, die sich gegenseitig
unterstützen können.

Die wirklichen Ziele gewaltfreier Bewegungen stehen im Konflikt
zu den herrschenden Machtstrukturen und konventionellen Einstellungen.
Macht zusammen mit hat mit den Fragen zu tun: »Von
welcher Basis aus können Aktionen ausgehen? Wessen Unterstützung
können wir für bestimmte Ziele gewinnen? Welche Stellen
der Macht in der Gesellschaft sind am leichtesten zu beeinflussen,
um Druck für Veränderungen zu erzeugen?« (Clark
1998: 14). Hier steht das Empowerment in sehr engem Zusammenhang
mit Strategien gewaltfreier Bewegungen.

Als nächster Schritt muß die Macht in Beziehung
zu
den gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet werden.
»Macht in Beziehung zu bedeutet [also] in Beziehung
zu unseren Zielen und zu den dominanten Machtbeziehungen.«
Es geht um die Frage: »Welchen Einfluss hat eine gewaltfreie
Bewegung gegen die Politik der allgemein gewohnten und institutionellen
Mächte?« (ebd.).

Diese drei Ebenen von Macht beeinflussen und stärken sich
gegenseitig. Das Begehren bestimmte Ziele zu erreichen, kann einem/einer
die Macht geben, zu handeln und sich mit anderen zusammenzuschließen.
Die Gruppe gibt den Einzelnen Kraft - und umgekehrt, und gemeinsam
mit anderen ist es oft einfacher, die gesellschaftliche Situation
zu verändern.

Empowerment-Prozesse verlaufen - schematisch dargestellt - in
4 Phasen, die Stark als »die Entwicklung gesellschaftlicher
Konfliktfähigkeit« bezeichnet (Stark 1996: 120 ff).
Sie beschreiben, wie Menschen die Macht erlangen, gesellschaftliche
Konflikte anzugehen und die Situation mit zu gestalten. Diese
Phasen können nicht als lineare Abfolge betrachtet werden,
sie können auch gemeinsam auftreten oder hin und her springen.

Die erste Phase kann als »Mobilisierung« gesehen werden.
Die betroffenen Menschen erleben einen plötzlichen Wandel
in ihrem Lebenszusammenhang, eine Krise. Durch diese Erfahrung
verlieren sie das Vertrauen in politische und andere gesellschaftliche
EntscheidungsträgerInnen. So beginnen sie, nach ihren eigenen
Möglichkeiten zu suchen, um die Situation zu beeinflussen.

In der zweiten Phase suchen und finden sie soziale Unterstützung
von Menschen, die sich in derselben oder einer ähnlichen
Situation befinden, oder ihre Interessen teilen. Sie werden sich
ihrer eigenen Fähigkeiten bewußter und machen erste
öffentliche Aktionen.

In der dritten Phase haben die Menschen ein genaueres Wissen über
gesellschaftliche Zusammenhänge erreicht. Sie haben Erfahrungen
mit Aktionen gesammelt und erleben durch ihre Weiterentwicklung
nun auch Konflikte innerhalb der Rollen, die sie in ihrer Gruppe
einnehmen, aber auch im privaten Bereich.

Die vierte Phase ist die Phase der Ȇberzeugung und
der brennenden Geduld«. Die Fähigkeit der Menschen mit
Konflikten umzugehen hat sich entwickelt, sie verstehen, daß
es eine Verknüpfung von Konflikt und Wachstum gibt und sind
zu der Überzeugung gelangt, daß sie die gesellschaftlichen
Zusammenhänge beeinflussen können und teilweise zu Veränderungen
beitragen. Diese Haltung hilft, auch in langsamen und schwierigen
Prozessen weiterzumachen und andere zu unterstützen, die
ähnliche Prozesse beginnen (vgl. Stark ebd). Menschen, die
diese vierte Phase erreicht haben, können KatalysatorInnen
für ein breiteres Empowerment sein, andere ermutigen, sich
nicht als Opfer sondern als aktive BürgerInnen wahrzunehmen
und einen Prozeß zu initiieren, um soziale Macht von unten
neu aufzubauen.

Empowerment in gewaltfreien Kampagnen

In gewaltfreien Kampagnen ist die aktive Beteiligung möglichst
vieler Menschen ein entscheidender Faktor. So betont Sharp (1973,
nach Martin, 1990: 10-11) nicht nur, dass »Gehorsam der Kern
politischer Macht« ist, sondern auch, dass die Herrschaft
durch den aktiven Entzug der Unterstützung durch die Beherrschten
mit Mitteln der gewaltfreien Aktion zum Einsturz gebracht werden
kann. Als Quellen der Macht sieht Sharp Autorität, menschliche
Ressourcen, Fähigkeiten und Wissen, unbestimmte Faktoren
psychologischer und ideologischer Art, materielle Ressourcen und
Sanktionen (Sharp 1973: 11-12), die - so Sharp - letztlich alle
auf Gehorsam beruhen. Gründe für Gehorsam sieht Sharp
in Gewohnheit, Angst vor Sanktionen, moralischer Verpflichtung
zum Gehorsam, Eigeninteresse, psychologischer Identifikation mit
den Herrschenden, Bereichen der Indifferenz und fehlendem Selbstvertrauen
der Beherrschten (ebenda: 19-24). Der Ausbruch des/der Einzelnen
aus einer »Kultur des Schweigens und des Gehorsams«
(WRI 1999) ist somit Grundlage einer jeden gewaltfreien Gesellschaftsveränderung.
Notwendig hierzu sind Empowerment-Prozesse auf der individuellen
Ebene, die aber durch Gruppenprozesse befördert werden können.

Stark (1996: 137) unterscheidet zwischen empowering organizations
und empowered organizations. Erstere legen den Schwerpunkt
auf das individuelle Empowerment ihrer Mitglieder. Merkmale von
empowering organizations sind:

  • die Möglichkeit, neue Fähigkeiten durch die Mitarbeit
    in der Organisation auszubilden (z.B. durch Aufgabenrotation);
  • die Pflege sozialer Bindungen innerhalb der Organisation;
  • eine soziale Struktur, die zur Weitergabe eigener Kompetenzen
    an andere stimuliert;
  • gemeinsame Entscheidungsfindung (Konsensprinzip), Durchführung
    gemeinsamer Aktivitäten;
  • eine offene Leitungsstruktur (ebenda).

Beispiele hierfür sind z.B. die Consciousness-raising groups
des frühen Feminismus oder auch Coming-Out-Gruppen der Schwulen-
und Lesbenbewegung, die in der Regel als empowering organizations
beginnen und höchstens in einer späteren Phase auch
Ziele nach aussen formulieren.

Empowered organizations dagegen arbeiten mit langfristigen
Zielen, die sie kurzfristig in einzelnen Teilzielen umsetzen.
Sie beschäftigen sich mit Themen, die von allgemeinem Interesse
sind, aber auch die einzelnen Mitglieder betreffen (Kraft 1998:
25).

Spätestens seit Beginn der 70er Jahre hat sich in der Diskussion
innerhalb der gewaltfreien Bewegung das Bezugsgruppensystem durchgesetzt
(in der Praxis dauerte es allerdings hierzulande bis in die Mitte
der 80er Jahre). Hierbei muss kritisch angemerkt werden, dass
die Individualisierungsprozesse der 90er Jahre mittlerweile langfristig
agierende Bezugsgruppen fast schon wieder zur Ausnahme machen.
Der Schwerpunkt liegt bei Initiativen oder Bezugsgruppen in gewaltfreien
Kampagnen auf der Formulierung von Zielen nach aussen, wodurch
sie zu den empowered organizations zu zählen sind.
Der Einstieg in eine solche Gruppe setzt also gewisse Empowerment-Prozesse
auf der individuellen Ebene bereits voraus, mit denen die gewaltfreie
Bewegung die Menschen in der Regel allein lässt. Trotzdem
finden sich gerade bei Initiativen und Bezugsgruppen mit den Prinzipien
der Konsensentscheidung oder der Aufgabenrotation auch Merkmale
von empowering organizations.. Hierzu zählt auch die
gemeinsame Teilnahme an gewaltfreien Trainings.

Gewaltfreie Kampagnenkonzepte (z.B. Moyer 1989, Lakey 1988, Randle
1975) beschäftigen sich im wesentlichen damit, wie durch
die empowered organizations der gewaltfreien Bewegung langfristige
Ziele durch gewaltfreie Methoden erreicht werden können.

Strategie ist notwendig, wie Howard Clark betont (Clark 1998:
14), denn sonst kann es dazu führen, dass Aktionen und Ereignisse
wiederholt werden, schlicht weil sie sich »gut anfühlen«,
ohne dass sie die Situation verändern. Dabei gehören
zu einer Strategie nicht nur klar formulierte Ziele, sondern auch
Massstäbe, mit denen ein Erfolg beurteilt werden kann, selbst
wenn die Ziele noch nicht erreicht sind. Clark verweist ebenfalls
auf die Gefahren einer Radikalisierung, die irrtümlich für
Empowerment gehalten wird. »Eine Strassenaktion, die bei
unserer ersten Teilnahme empowered ist, braucht schon bald etwas
neues - mehr Menschen, eine grössere Bandbreite von Gruppen,
mehr Wirkung. Doch wenn es schwierig wird, den Grad sozialer Mobilisierung
auszuweiten, dann ist eine verbreitete Tendenz für viele
von uns, Militanz als Empowerment misszuverstehen. So eskalieren
Menschen die Aktion, und hoffen auf ähnliche Ergebnisse in
Bezug auf, z.B. Behinderung und Presseberichterstattung. Doch
eine solche Militanz hat ihren Preis. Häufig steigert sie
die gesellschaftliche Marginalisierung, die die AktivistInnen
spüren, und wird umgekehrt wahrscheinlich die soziale Basis
für Aktionen schmälern.« (Clark 2000: 32-33) Das
kann übrigens auch bei Pflugschar- oder anderen gewaltfreien
Aktionen passieren, wenn die Kluft zwischen den radikal-gewaltfreien
AktivistInnen und vielen neuen AktivistInnen zu gross ist. Auch
gewaltfreie Aktion muss auf »Anschlussfähigkeit«
achten, um nicht in eine abwärts führende Spirale 'gewaltfreier'
Militanz zu geraten, die im Endeffekt vielleicht nicht die radikalen
AktivistInnen (die sich bei ihrer Aktion gut fühlen mögen),
aber viele andere disempowered, und damit gesellschaftlichen Wandel
in weite Ferne rückt.

Der Ansatz des Empowerment führt somit zu anderen Massstäben
für die Effektivität gewaltfreier Bewegungen, die nicht
nur am Erreichen des formulierten Zieles, z.B. des Verbotes von
Landminen, gemessen werden kann. Effektiviät lässt sich
auch nicht quantitativ nur daran messen, wie viele Menschen sich
an einer Postkartenaktion oder Unterschriftensammlung beteiligt
haben, sondern der entscheidende Massstab ist das Empowerment
der Beteiligten, die aktive Beteiligung an der Entwicklung
der Bewegung, an der Formulierung von Zielen und Strategie, an
der Planung und Durchführung von Aktionen. Eine Kampagne
mag zwar viele Unterschriften sammeln und ihr Ziel erreichen,
doch wenn der Kern der Aktiven nachher genauso klein ist wie vorher,
stellt sich die Frage, ob die Beteiligung von Menschen auch zu
ihrem Empowerment geführt hat, und ob die Kampagne somit
wirklich in einem erweiterten Sinne »effektiv« war.

Erfolg nur am Erreichen des Zieles zu messen, kann ausserdem zu
einer »zielorientierten«, »instrumentellen«
Arbeitsweise führen, und zu einer hohen Burn-out-Rate unter
AktivistInnen. Wichtiger noch »ignoriert eine solche enge
Sichtweise von Effektivität eine von vielen AktivistInnen
geteilte tiefliegende Motivation: zu einem besonderen Problem
auf eine Weise eine Kampagne zu führen, dass ein weitergehender
Wandel befördert wird, und unsere Fähigkeit, unser Leben
zu gestalten, erweitert wird.« (Kraft 2000: 35)

Die Perspektive des Empowerments wendet den Blick also stärker
auf die Prozesse innerhalb gewaltfreier Bewegungen, den Einfluss
auf die Beteiligten, und die Veränderungen gesellschaftlicher
Kultur, die durch diese Bewegungen ausgelöst werden. (ebenda)

Auch hier sind die verschiedenen Ebenen miteinander verwoben.
Moyer (1989) betont z.B. die Notwendigkeit, Erfolge sozialer Bewegungen
wahrzunehmen. Gewaltfreie Bewegungen, empowered organizations,
die einen gangbaren Weg zur Veränderung aufzeigen, machen
auch bisher nicht Beteiligten Mut, sich zu engagieren, und tragen
damit ebenfalls zum individuellen Empowerment bei, fördern
sie doch »das Bewußtsein über die Möglichkeiten,
... die soziale Umwelt zu beeinflussen« (Stark 1996: 132).

Offene Fragen

Der Blick durch die »Empowerment-Brille« wirft auch
neue Fragen auf, von denen wir hier nur zwei nennen wollen, die
zugegebenermassen provokativ sind:

  • Die gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse seit den
    90er Jahren haben dazu geführt, dass sich weniger Menschen
    langfristig in Gruppen engagieren. Die Erfahrungen bei vielen
    Kampagnen ist, dass sich Aktionsgruppen spontan bilden, und wieder
    auflösen. Bewegungen reagieren darauf teilweise mit einer
    »Professionalisierung«, mit der Etablierung von Büro-
    und Hauptamtlichenstrukturen, die Kampagnen planen und »durchziehen«,
    teilweise mit beachtlichem Erfolg (z.B. Landminenkampagne, Daimler-Minen
    stoppen). Kritisch lässt sich trotzdem fragen, ob bei diesen
    Kampagnen auch ein Empowerment nach innen stattfindet, ob also
    die Balance zwischen empowered organization und empowering
    organization
    gewahrt bleibt?
  • Andererseits kann die Betonung des Empowerment auch das Ausbleiben
    »handfester« Erfolge kaschieren. Zynisch könnten
    wir fragen, ob die neuen sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren
    zwar vielleicht einigen Einfluss auf die gesellschaftliche Kultur
    gehabt haben, ohne aber an den gesellschaftlichen Strukturen real
    etwas zu verändern (die geprägt sind durch eine Verschärfung
    der weltweiten Ungleichheiten, durch Militarisierung nach aussen
    und innen, und zunehmenden Rassismus)? Suhlen wir uns in unseren
    »Empowerment-Erfolgen«, die in Wirklichkeit nur eine
    »Schein-Macht« darstellen?

Die War Resisters' International führt derzeit ein Projekt
zu Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowerment durch. Bestandteile
sind eine internationale email-Diskussion zum Verständnis
von gewaltfreiem gesellschaftlichen Empowerment, die Erstellung
von Fallstudien zu verschiedenen Kampagnen, eine internationale
Konferenz zu Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowerment
vom 29.12.2000-04.01.2001 in Puri/Orissa in Indien sowie die Veröffentlichung
eines Buches. Im Rahmen des Projektes werden weitere Fragen erörtert
werden. Die Konferenz in Indien spannt den Bogen von Fragen der
persönlichen Macht, des Ausbrechens aus einer Kultur
des Schweigens und des Gehorsams, über die Macht des Organisierens,
einem Vergleich von Fallstudien von jeweils vier Kampagnen zu
vier Themenschwerpunkten, bis hin zu Fragen der Gegenmacht
und des Aufbaus von Institutionen
, des Empowerments einer
Mehrheit
und der Erörterung der Rolle internationaler
Solidarität und internationalem Eingreifens.


Mehr Informationen (überwiegend auf Englisch) zum Projekt
sind erhältlich bei:

WRI Nonviolence and Social Empowerment Project

c/o Patchwork, Kaiserstrasse 24, 26122 Oldenburg

Tel.: 0441-2480437, Fax: 0441-2489661

email: wri-nvse-project@edu.oldenburg.de

http://wri-irg.org

Julia Kraft und Andreas Speck sind derzeit KoordinatorInnen
des WRI-Projektes zu Gewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowerment.

Wir brauchen dringend Spenden für das Projekt, und seien
sie auch noch so klein. Spendenkonto: Förderverein War Resisters'
International e.V., Konto-Nr. 11787613, Kasseler Sparkasse (BLZ
520 503 53), Stichwort: Gewaltfreiheit und gesellschaftliches
Empowerment


Literatur

Burrowes, Robert J. 1996: Nonviolent Defense - a Gandhian Approach,
State University of New York Press

Clark, Howard, 1998: Mächtiger, als wir ahnen. Was bedeutet
Macht für gewaltfreie Bewegungen? graswurzelrevolution
27. Jg., Nr. 228, April, S. 14

Clark, Howard, 2000: Be realistic - demand the impossible. Peace
News
65. Jg., No 2439, Juni-August 2000, S. 32-33

Ebert, Theodor, 1981: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg.
Waldkirch, Waldkircher Verlagsgesellschaft

Jones, Sian: Editorial. Peace News 65. Jg., No 2439, Juni-August
2000, S. 12-13

Kraft, Julia, 1998: Die mögliche Bedeutung des Empowerment-Konzeptes
für eine Didaktik der Sozialpädagogik. Diplomarbeit
im Studiengang Diplom-Pädagogik, Carl-von-Ossietzky-Universität
Oldenburg, unveröffentlicht.

Kraft, Julia: Power with, not power over. Peace News 65.
Jg., No 2439, Juni-August 2000, S. 35

Kreusel, Silke, 1997: X-tausendmal quer. Die Probleme der Basisdemokratie
bei Massenaktionen. graswurzelrevolution, 26. Jg., Nr.
218, April, S. 8

Lakey, George, 1988: Manifest für eine gewaltfreie Revolution.
In: Lakey/Randle: Gewaltfreie Revolution. Berlin, Oppo

Levy Simon, Barbara, 1994: The empowerment tradition in american
social work - a history; New York

Martin, Brian, 1990: Gene Sharps Machttheorie. Eine sympathisierende
Kritik. graswurzelrevolution, 19. Jg. Nr. 150, November,
S. 10-11

Moyer, Bill, 1989: Aktionsplan für soziale Bewegungen. Kassel,
Weber-Zucht.

Randle, Michael, 1975: Der Befreiung entgegen. Widerstand gegen
den Krieg
(Sonderdruck)

Sharp, Gene, 1973: The Politics of Nonviolent Action. Vol. 1-3.
Boston, Porter Sargent

Sharp, Gene, 1980: Social Power and Political Freedom. Boston,
Porter Sargent

Stark, Wolfgang, 1996: Empowerment - neue Handlungskompetenzen
in der psychosozialen Praxis. Freiburg im Breisgau

War Resisters' International, 1995: Bericht über die 21.
Dreijahreskonferenz der War Resisters' International, 10.-17.

Dezember 1994, São Leopoldo, Brasilien. Das zerbrochene
Gewehr
Nr. 32, Juni 1995

War Resisters' International 1995a: War Resisters' International
Council, Urnieta, Euskadi, State of Spain, 9-15 September 1995
(Councmin.021), S. 9-10

War Resisters' International 1996: War Resisters' International
Council 1996, 21-25 July 1996, Liège, Belgium (Councmin.022),
S. 14

War Resisters' International, 1997: Prinzipienerklärung der
War Resisters' International, verabschiedet auf dem WRI-Ratstreffen
in Carmaux/Frankreich 1997. graswurzelrevolution, 26. Jg.,
Nr. 224, Dezember, S. 9

War Resisters' International, 1999: Gewaltfreiheit und gesellschaftliches
Empowerment. Projektbeschreibung, unveröffentlicht


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