OXI (NEIN)

Paolo Novak

Ich schreibe dies während die Ergebnisse aus dem griechischen Referendum zu dem von der Troika (EU, IWF und Europäische Zentralbank) vorgeschlagenen Rettungsprogramm die Schlagzeilen in Zeitungen und Nachrichtenblätter stellen. Das widerhallende NEIN (oxi) zu den Sparmaßnahmen, das sich aus dem Referendum ergab, könnte etwas losgelöst von den Bedenken dieser Ausgabe des Zerbrochenen Gewehrs erscheinen – und doch ist es das auf vielerlei Arten nicht.

Erstens, während behauptet wurde, dass das Referendum ein Weg sei, griechische Souveränität und demokratische Prinzipien gegen die Auferlegungen einer geldgesteuerten europäischen Ordnung rückzuversichern, so sagten die politischen Forderungen im Zusammenhang mit der OXI-Kampagne wenig über Migranten und die Militarisierung der griechischen Grenzen. Tatsächlich ruht die Anti-Sparmaßnahmen-Plattform der Tsipras-Regierung auf einer Koalition zwischen seiner eigenen Partei, Syriza, und ANEL (unabhängige Griechen), einer Partei aus dem rechten politischen Spektrum, die für die Reduzierung der auf griechischer Erde aufzunehmenden Migrantenzahl ist. Syriza selbst hatte zu Migration recht wenig zu sagen, außer der Forderung nach einer erhöhten Verteilung der in Griechenland angekommenen Migranten an die EU-Mitgliedsstaaten. Die Finanzkrise hat sicher die Sparmaßnahmen und die Verhandlungen mit der Troika oben auf die Tagesordnung gesetzt. Der Punkt ist jedoch: dürfen wir NEIN zu Sparmaßnahmen innerhalb Europas sagen, ohne dieses „nein“ mit der anderen Seite der Münze zu verbinden, d. h. mit dem Geschehen außerhalb Europas oder an dessen Grenzen? Dürfen wir NEIN sagen zu Neoliberalismus ohne gleichzeitig NEIN zu den Toten an den Grenzen zu sagen?

Griechenland war an der vordersten Front der kürzlichen „Migrationsnotfälle“ auf dem Mittelmeer, mit mehr als 50.000 Migranten, die seit Anfang 2015 (d.h. seit die Wahlen Syriza an die Macht brachten) über ungeregelte Wege an seinen Stränden ankamen. Eingebettet in eine humanitäre Geschichte haben die Reaktionen der europäischen Länder auf die erschütternden Szenen von nicht seetauglichen Booten voller Menschen und auf deren Unglück effektiv zu einer (weiteren) Militarisierung der Außengrenzen geführt, wobei Griechenland ein wichtiger Ort zur Anwendung dieser Reaktionen ist. Poseidon Sea und Poseidon Land sind zwei der mehr als 20 FRONTEX-Operationen, die seit 2006 von Griechenland „ausgerichtet“ wurden und die darauf abzielen, unregelmäßige Migrationsströme hin zu dem Gebiet der EU-Mitgliedsstaaten zu kontrollieren, mit „einem gewünschten Präventionseffekt, und um grenzübergreifende Kriminalität zu bekämpfen“1.

Lt. EU hilft die Überwachung der Grenzen (lies‘ Militarisierung), Leben zu retten2, und trotzdem haben die Grenzminenfelder auf der griechischen Seite des Flusses Evros (der die Grenze zur Türkei markiert3), die ungesetzlichen Abweisungen in der Aegäis und die Schiffbrüchigen, die das Ufer nie erreichen, die griechischen Grenzen in einen Friedhof für Tausende von Menschen gemacht, die versuchen, ein besseres Leben fern ihrer Heimat zu finden. Griechenland steht da nicht alleine da. Ein kürzlicher IOM-Bericht besagt, dass sich die Anzahl der Toten im Mittelmeer von Januar bis 1. Juli 2015 auf 1.875 (eintausendachthundertfünfundsiebzig) beläuft. Das sind 70% aller grenzbedingter Todesfälle auf der Welt während dieser Zeit. Seit dem Jahr 2000 sind mehr als 30.000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, gestorben und mehr als 40.000 auf der ganzen Welt.4 Zäune, Wände, Dronen und verschiedene miltärische Techniken und Technologien sind zum Standard geworden auf der ganzen Welt, was die Grenzsicherheit betrifft, und demzufolge ein konkreter Aspekt im täglichen Leben – und Sterben – der Migranten.

Zweitens, während die 100 Millionen Euro oder so, die jedes Jahr für FRONTEX-Operationen gesichert und ausgegeben werden oder gar die US $ 2,2 Milliarden, die von der EU – lt. Amnesty-Bericht5 - zwischen 2007 und 2013 für die Sicherung der äußeren Grenzen ausgegeben wurden, und die die Milliarden an finanziellen Schulden, um die es in den Diskussionen zwischen der griechischen Regierung und der Troika geht, klein erscheinen lassen, ist dieses Geld nur ein Indikator, der bestätigt, dass sogar in Zeiten der Entbehrung immer noch genug Mittel für militärische Operationen da sind. Können wir NEIN dazu sagen, dass (unser!) Geld so ausgegeben wird? Können wir NEIN sagen zu Haushaltsausgaben, die Abschreckung und Überwachung über Integration und Solidarität stellen?

Und schließlich: Institutionen, wie der IWF arbeiten nicht nur in Europa. So wurde die Strukturelle Anpassung, die zur Zeit mit Griechenland verhandelt wird, für mehr als vier Jahrzehnte den Entwicklungsländern aufgebürdet mit verheerenden Konsequenzen. Die Privatisierung von Land, die Reduzierung der staatlichen Versorgung für deren Einwohner sowie von anderen landwirtschaftlichen und sonstigen Subventionen, der Ausverkauf des Staatseigentums, die Bergbaukonzessionen (gewährt an transnationale Unternehmen), und viele andere der neoliberalen Agenda zuzuschreibenden Dinge (anders ausgedrückt, die Einführung der Marktsouveränität über alle Domänen des sozialen Lebens) haben den Lebensmechanismus von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt unterbrochen und die materiellen Bedingungen definiert, durch die diese auf der Suche nach Möglichkeiten eines Lebens in Würde herumwandern müssen. Können wir NEIN sagen zu Rezepten für Wirtschaftswachstum, die so viel Armut produziert haben und die Ungleichheit so vergrößert haben? Können wir NEIN sagen zu den Kriegen im mittleren Osten, Afghanistan und in vielen Regionen Afrikas, die die Menschen zwingen, ihr Zuhause zu verlassen und Zuflucht in Europa zu suchen, wo sie zur gleichen Zeit ein Zeugnis der vergangenen und gegenwärtigen Verantwortlichkeit der gleichen Länder sind, die die Asylsuche dieser Menschen (durch Militarisierung ihrer Grenzen) verhindern?

Wir könnten wohl NEIN zu allen obigen Fragen sagen, aber wir werden leider nie gefragt. Und das ist nicht nur der Anfang des Problems.

Der Philosoph Etienne Balibar und andere sagen, dass Grenzen die undemokratische Vorbedingung für Demokratie sind. Wir können einen Demos haben, indem wir unterscheiden, wer drinnen und wer draußen ist, und doch ist diese Wahl jeglicher demokratischen Kontrolle geschichtlich entglitten. Dies ist ein erstes demokratisches Defizit. Das zweite Defizit wird durch die obengenannten Fragen belegt, die alle auf eine Reihe von Entscheidungen hinweisen, die unserer demokratischen Kontrolle entgehen. Darin liegt der Widerspruch. Wir als undemokratisch definierter Demos sollten uns anstrengen, Entscheidungen über finanzielle Einsparungen, Haushaltszuteilungen, Grenzmilitarisierung usw. unter demokratische Kontrolle zu bekommen. Und trotzdem riskieren wir , wenn wir als solcher Demos agieren, gleichzeitig die Verstärkung des ersten demokratischen Defizits. Die Militarisierung der Grenzen haut uns diesen Widerspruch um unsere Ohren.

***

Während ich diesen letzten Abschnitt schreibe, ist schon mehr als eine Woche seit dem griechischen Referendum vergangen. Das OXI (Nein), das das Referendum wiedergab, scheint nicht die gewünschten Effekte erzielt zu haben (oder zumindest die Effekte, die viele von uns außerhalb Griechenlands erhofft hatten) angesichts der Auferlegung weiterer Sparmaßnahmen, Privatisierung von Staatseigentum, und weiterer Reduzierung der staatlichen Versorgung. Ist es überhaupt möglich, das zweite demokratische Defizit anzugehen, ohne das erste zuerst zu lösen? Meiner Meinung nach hängt an dieser Frage unsere demokratische Zukunft?

Übersetzung: Inge Dreger
Paolo Novak unterrichtet in der Fakultät Entwicklungsstudien am SOAS. Er forscht an der Beziehung zwischen Migration, Grenzen und Entwicklung, mit speziellem Fokus auf Afghanistan/Pakistan, Indien/Bangladesh und die Mittelmeerländer. Er veröffentlich in Transnational Legal Theory, Journal of Refugee Studies, Geopolitics, Development in Practice.

1 http://frontex.europa.eu/operations/archive-of-operations/?host=Greece2 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-1199_en.htm3 Diese Minen wurden 1974 verlegt zur Zeit der griechisch-türkischen Pattsituation bezüglich Zypern 4 http://missingmigrants.iom.int/ 5 http://www.amnesty.ca/sites/default/files/eur_050012014_fortress_europe…

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